Ich erinnere mich noch, als ich das erste Mal in meinem Leben einen Souk, einen orientalischen Markt erlebt habe – und ich spreche von einem städtischen Souk, nicht dem Wochenmarkt auf dem Land. Ich war ein Teenager, 17 Jahre alt, und ich lief zusammen mit meinem Vater durch den Khan el Khalili, den ältesten Basar Kairos und ich erinnere mich, dass es für mich eine Zauberwelt war, in die ich eintauchte, und die mich nie wieder losließ.
Später dann, als ich Islamwissenschaft studierte und mit Mitte 20 ein Auslandssemester in Damaskus einlegte, lernte ich einen anderen Basar kennen, einen, der keine Souvenirs braucht, um zu glänzen, einen, der sich ganz und gar den Bedürfnissen der Damaszener anpasste und den ich über alle Maßen liebte: den Souk el Hamidiye. Ja und dann kam Marokko. Wieder eine ganz andere Welt. Eine Mischform aus touristischem Schischi und Grundversorgung der Bevölkerung, ein exotisches Labyrinth mit Werkstätten und Verkaufsstätten, mit verwinkelten Gassen und breiten Soukstraßen, mit American-Express-Läden und einfachen Straßenhändlern, kurzum: Eine Welt voller Widersprüche, die bei aller Liebe zum Khan el Khalili und dem Souk al Hamidiye (und vor allem letzteren habe ich wirklich unglaublich geliebt!!) vor allem eines war, was die anderen Souks nicht bieten konnten: Ein Feuerwerk an Farben! Und das ist der Souk in Marokko für mich bis heute. Leuchtend bunt, voller Farben und Gerüche (wobei die Gerüche in der Mokka-Gasse des Damaszener Souks auch überwältigend gut waren), voller Marktbrüller und Verkäufer. Eine Welt, die mich bis heute anzieht und gleichzeitig auch abschreckt. Die mich manchmal unglaublich nervt, weil sie mir kaum Gelegenheit gibt, mich vom Fleck zu bewegen, und die mich doch immer wieder auch in ihren Bann zieht. Vor allem aber fasziniert. Denn der Souk, ganz gleich, ob er in Kairo, in Istanbul, Damaskus oder Fes ist, ist eine ganz eigene Welt. Eine Welt, die in sich geschlossen ist und in die man von Außen kaum hineinsehen kann – und das, obwohl sie sich zur Schau stellt, wie kaum ein anderer Ort der arabischen, der orientalischen Welt.
Von Außen ist er oftmals ganz unscheinbar, nicht selten vollkommen abgeschirmt durch eine Mauer und man betritt ihn durch ein Tor. Dahinter verbergen sich nicht nur Verkaufsläden, sondern ein großes und komplexes System von politischer, religiöser und natürlich wirtschaftlicher Bedeutung. Und das meiste davon spielt sich hinter den farbenfrohen und pittoresken Fassaden ab, und nicht in den Geschäften.
Die Architektur des Souks ist fast überall in der arabisch-orientalischen Stadt gleich: Das Zentrum ist in der Regel überdacht. Es ist rund um die Hauptmoschee angesiedelt und verfügt über Einzelhandels- und Handwerksläden. Je nobler das Gewerbe ist, desto näher stehen die Geschäfte an der Moschee. So finden sich Schmuck- und Stoffsouks fast immer in unmittelbarer Nähe zum Gotteshaus, während die „unsauberen“ Gewerbe wie z. B. Metzger oder Gerber immer außerhalb zu finden sind. Der Souk ist in Haupt- und Nebengassen gegliedert und nach den einzelnen Gewerben getrennt. So gibt es Töpfersouks, Teppichsouks, Kupferwarensouks, Schmucksouks, Gewürzsouks etc....
Anfangs hatte ich mich gewundert, dass dies so war. Denn – typisch Deutsch, praktisch, gewinnorientiert und immer am Optimieren, dachte ich mir, dass auf diese Weise doch alle unter der Konkurrenz zu den anderen leiden müssten und es sehr viel mehr Sinn machen würde, keine reine Schuhstraßen zu haben oder reine Shirt-Shop-Zeilen. Doch weit gefehlt. Denn ich deutsche Seele habe die des arabischen bzw. der marokkanischen Souks einfach nicht erfasst. Denn die Seele spiegelt sich in genau dieser Anordnung wider. Die Basarhändler, so sehr sie sich natürlich auch als Konkurrenten verstehen, sind letzten Endes eine Einheit. Jede Sparte ist in sich organisiert und fehlt dem einen das eine, beschafft es der andere. So ist z.B. der Babouchensouk wie ein einziger Schuhladen zu verstehen. Nur, dass die Verkäufer eben Provisionen auf ihre Verkäufe erhalten. Auch wenn sie einen eigenen Shop besitzen. Und das hat einen historischen Hintergrund: Bis zum Ende der Protektoratszeit (1956) organisierten sich die Soukhändler in sogenannten Hentas, was man wohl am ehesten mit „frommer Gesellschaft“ übersetzen könnte. Ähnlich wie unsere mittelalterlichen Zünfte, gab es in jedem Gewerbe eine Interessenvertretung, die innerhalb und außerhalb des Souks auftrat und nicht selten über einen beträchtlichen Einfluss verfügte. Der Hauptunterschied zu unseren Zünften jedoch war die Verbindung einer Henta mit einer religiösen Bruderschaft. Die Hentas waren verschiedenen Handwerkssparten zugeordnet. Lederhändler waren niemals in der selben Henta wie z.B. Metzger, denn die sogenannten „ehrenwerten“ Händlergruppen, wie die Schneider, Stoffhändler oder Möbelhändler schlossen sich den eher klassischen Bruderschaften, wie der Tijania an, unreine eher den Mystikern.
Eine Henta ermöglichte es einem Händler, sich innerhalb ihrer Gewerbe frei zu bewegen. Hilfsbereitschaft, Geldtransfers, Gemeinschaftsgeist fand man immer nur innerhalb seiner Bruderschaft.
Auch wenn es die Hentas heute nicht mehr gibt – zumindest nicht mehr in ihrer strengen Form, so sind doch die Soukgassen, die nach Gewerbe sortiert sind, das Erbe dieser Zeit. Und natürlich weht bis heute der Geist eben jeder Bruderschaften noch immer in jedem Souk. Ganz gleich, wo er ist, sofern er nur städtisch ist.
Hinzu kommt, dass der Souk bis heute im Sinne der Bruderschaften organisiert ist. Es gibt z.B. immer noch einen Amin, einen „Wächter“ des Marktes. Er ist ein gewähltes Mitglied eines Berufszweiges mit der Aufgabe, Konflikte, die sich auf dem Soukgelände ereignen, zu schlichten. Ob es sich dabei um Konflikte innerhalb einzelner Berufsgruppen handelt, oder um Unstimmigkeiten zwischen Käufern und Verkäufern, ist einerlei. Meist ist es ein älterer, frommer und wohlhabender Mann, der sowohl Vertrauen von Staatsseite als auch unter den Basaristen genießt. Bricht in einem Souk ein heftiger Konflikt aus, wird der Fall vor den Amin gebracht, der zwar keine richterlichen Befugnisse hat, aber offizieller Vermittler ist.
Es hat Jahre gebraucht, bis ich den Souk wirklich verstanden habe. Oder nein. Das ist falsch ausgedrückt: Es hat Jahre gebraucht, bis ich einen Teil des Souks wirklich verstanden habe. Denn bis heute gibt es im Markt gewissen Geheimnisse, in die ich als Fremde ganz sicher nie eingeweiht werde. Aber das ist auch okay. Denn so bleibt ein Teil des Mysteriums, den der Souk für mich bis heute ausmacht, lebendig. Und auch, wenn ich – vor allem in Marrakech – wirklich oft genervt bin von den Soukhändlern und der Enge: So ist es trotz allem ein mystischer Ort geblieben. Ein Ort, an den ich trotz allem immer wieder zurück möchte. Denn: Ob ich den Souk liebe oder hasse liegt nicht am Souk. Sondern an mir. Man muss sich auf ihn einlassen. So wie man sich auf das ganze Land einlassen muss. Und nur wenn man das kann, erlebt man den Zauber, der diesem Orte innewohnt. Und man muss natürlich loslassen. Loslassen vom Pragmatismus, loslassen von dem Wunsch zu optimieren, vor allem aber loslassen vom Stress. Denn wenn eines absolut nicht funktionieren kann dann das: Gestresst den Souk erleben. Und so ist der Souk für mich bei aller Hektik ein Ort der Entschleunigung geworden. Ein Ort, der mich lehrt, dass mein ureigenes Tempo unangebracht ist. Für mich eine der schwersten Lektionen. Denn meistens rase ich durchs Leben. Aber genau deshalb liebe ich auch den Souk. Er lehrt mich die Ruhe. Und das – da bin ich ehrlich: Das ist die wahre Zauberei.
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