Reden ist silber, Schweigen nichts wert
Da läuft man nichts Böses ahnend durch die Stadt und schwups ist man in ein Gespräch verwickelt! Meist fängt es ganz banal mit der Frage nach Feuer oder der Uhrzeit an und ehe man sich versieht, beginnt ein Gespräch. Sei es in einem Café, im Bus, im Suq oder einfach so auf offener Straße, Fragen wie „Woher kommen Sie? Wie gefällt Ihnen Marokko, wie die Marokkaner, finden Sie sie nett?“ begegnen jedem, der offen durchs Land reist. Dabei verfügen die meisten Marokkaner über einen unglaublichen Sprachenreichtum. Neben Arabisch und Französisch sprechen viele, die zumindest ein paar Jahre auf der Schule waren und/oder im Tourismusbereich arbeiten, auch Englisch, Spanisch und z.T. sogar Deutsch. Das gilt natürlich besonders für Touristenzentren.
Diese Kontaktfreudigkeit, die häufig darauf hinausläuft, den Touristen in ein Gespräch zu verwickeln, um dann hinterher mit ihm, dem neuen Freund, ein „Geschäft“ zu machen, ist auf Dauer anstrengend und spätestens nach den zwanzigsten „Bonjour, ça va?“ hat man keine Lust mehr zu antworten.
Warum kommt es zu solchen Begegnungen? Zuerst einmal muss man natürlich zwischen denjenigen unterscheiden, die Fremde aus Lust an der Kommunikation ansprechen und denjenigen, die Menschen ansprechen, weil sie eine Möglichkeit wittern, vom Fremden zu profitieren: Häufig bieten sie Dienste als sogenannte „Guides“ oder aber als „Schlepper“ an, die den Touristen in das Teppichgeschäft des (vermeintlichen) Onkels/Cousins/Bruders/Vaters führen wollen, damit dieser durch die „Freundschaft“ mit dem Neffen/Cousin/Bruder/Sohn einen besonders guten Preis erhält. In diese Gruppe fallen auch diejenigen, die sich durch ein Gespräch mit deutschen Touristen Chancen auf ein deutsches Visum oder eine Arbeitsmöglichkeit in Deutschland erhoffen. Diese Art von Gesprächspartnern findet sich vor allem in Touristenzentren und großen Städten. Die anderen, die den Reisenden nicht aus diesen Gründen ansprechen, wollen tatsächlich nur reden, meist weil sie neugierig und an der fremden Kultur interessiert sind. Viele kennen Europa von Aufenthalten als Gastarbeiter (vor allem natürlich in Frankreich) und wollen über diese Zeit reden. Die Tatsache, dass es — vor allen in den Städten — irgendwie „schick“ ist mit Ausländern sprechen spielt sicherlich auch eine wichtige Rolle, genauso wie die Langeweile vieler Arbeitsloser, die sich durch ein Gespräch Abwechslung erhoffen. Gerade letztere sind gar nicht so selten, die Arbeitslosigkeit, vor allem unter den jüngeren Leuten, ist immens hoch und ein Tag ohne Arbeit sehr lang.
Gespräche haben in Marokko einen völlig anderen Stellenwert als bei uns, sie gehören zum alltäglichen Zeitvertreib dazu. Ein Mensch, der sich nicht unterhält, ist einsam, und der Gedanke, alleine in einem Café sitzen oder spazieren gehen zu wollen, ist den meisten Marokkanern fremd und unverständlich. Selbiges gilt für die europäische Art, sich in einem Restaurant alleine an einen Tisch zu setzen oder sich im Zugabteil anzuschweigen. Wann immer sich mehrere Menschen in einem Raum befinden oder aufeinandertreffen, beginnen die Gespräche. Man tauscht sich über das Woher und das Wohin aus, redet über das Wetter und die Familie und versucht gemeinsame Bekannte ausfindig zu machen. Es wäre für die meisten Marokkaner befremdlich, sich nicht miteinander zu unterhalten, wenn man eine bestimmte Zeit miteinander verbringt und wer bietet sich als interessantester Gesprächspartner an? Natürlich der Fremde. Was hat er zu sagen? Was denkt er? Warum soll der Arme auch alleine in einem Café sitzen müssen... . Ganz gleich, aus welchem Grund ein Marokkaner uns anspricht, Gespräche gehören zum marokkanischen (Reise-)Alltag dazu und können im schönsten Falle sogar zu einer Freundschaft führen. Auch sogenannte Schlepper, die die Kommunikation anfangs nur aus finanziellen Interessen begonnen haben, entwickeln sich häufig zu interessanten Gesprächspartnern. Dabei kommt es letztendlich natürlich auch immer auf einen selbst an. Ich habe zum Beispiel festgestellt: Je mehr ich versuche, mich innerlich gegen ein Gespräch zu wehren, um so penetranter wird mein Gegenüber. Gehe ich locker und entspannt mit dem x-ten Versuch um, ein Gespräch zu führen, werde ich eher in Ruhe gelassen. Ein höfliches a'tini et-tisa' baraka llahu fik — lassen Sie mich bitte in Ruhe — wird dann fast immer akzeptiert. Die meisten Marokkaner haben ein Gespür dafür, wie weit sie gehen können und akzeptieren abgesteckte Grenzen, wenn man sicher genug auftritt. Dabei können Gespräche mit der einheimischen Bevölkerung ausgesprochen bereichernd sein. Denn merkt der Gegenüber, dass man sich für sein Land interessiert, sprudeln die Informationen nur so heraus. Er wird sich bemühen, die Fragen des Reisenden zu beantworten. Die meisten Gespräche werden sehr schnell sehr persönlich. Fragen nach Familienstand, Kindern, Verdienst und Religion sind innerhalb der ersten Viertelstunde Standard. Dabei geht es nicht darum, die Privatsphäre des Reisenden zu verletzen, sondern vielmehr darum, den Fremden einschätzen zu können. Auch Marokkaner fragen untereinander dasselbe. Man will sich ein Bild des anderen machen, akzeptiert aber in den meisten Fällen, wenn der Befragte auf diese Fragen nicht antworten möchte. Ein lächelndes maschi schrulik — das geht Dich nichts an — ist in diesem Falle angebracht. Man vergibt sich aber nichts, wenn man auf derartige Fragen antwortet, wenn auch die Antworten nicht immer auf Verständnis stoßen (vor allem Kinder- oder Trauscheinlosigkeit). Man selber hat dann die Möglichkeit seinerseits nach diesen persönlichen Dingen zu fragen und erhält als Antwort nicht selten Fotos der Familie und stolze Erzählungen wie „der Sohn ist in Casablanca, die Tochter hat drei Kinder“ oder ähnliches.
Auch gegenseitige Fragen über das Herkunftsland helfen beiden Seiten, Einblicke in die fremde Welt zu erhalten und werden aus diesem Grund gerne gestellt. Dabei sollte man direkte Fragen nach Muhammad VI. vermeiden. Auch Kritik am marokkanischen Staat und der Königsfamilie sind nicht angebracht. Ähnliches gilt für Kritik an der Religion (und die damit zum Teil verbundenen Vorstellungen über die Rolle der Frau). Das Bekenntnis, selbst unreligiös zu sein, führt zu völligem Unverständnis, weshalb sich auch nichtreligiöse Menschen immer als Christen bezeichnen sollten. Weitere Themen, denen man besser aus dem Weg geht, sind Themen rund um die marokkanische/arabische Politik. Dazu gehören neben Fragen nach der Westsahara vor allem auch die politische Situation in Israel und Palästina. Meidet man diese Themen jedoch und versucht, sich ein wenig auf den anderen einzustellen, steht dem Austausch nichts mehr im Wege.
Am liebsten und häufigsten wird natürlich über die Familie geredet. Die Familie ist der zentrale Bezugspunkt eines Menschen. Die meisten Marokkaner lieben es außerdem, über ihr Land zu sprechen und über ihre Kultur. Eine Frage, die bei längeren Gesprächen fast immer wieder aufkommt ist, ist die nach dem Islam. „Was halten Sie vom Islam?“ Die meisten Menschen in Marokko definieren sich über den Islam, und es liegt im Wesen jeder Religion, die eigene Doktrin den anderen gegenüber als die einzig Richtige anzusehen. So kann ein frommer Muslim nicht verstehen, dass ein Mensch nicht muslimisch sein kann. Für ihn ist der Islam der vollkommene Glaube. Man sollte dem nicht widersprechen, da dies leicht zu Komplikationen führen kann. Sinnvoller ist es, die Menschen über ihren Glauben, den Islam, zu befragen. Denn nur Kritik am Islam, nicht Interesse sollte tabu sein. Die meisten freuen sich sogar sehr, wenn man Interesse an ihrer Religion zeigt und es ist interessant, was dabei alles zutage kommen kann, was von uns bisher falsch oder anders gesehen wurde. Wenn der Gegenüber feststellt, dass Sie sich schon einmal mit der Thematik auseinandergesetzt haben und Wissen darüber besitzen, wird er offen und begeistert darüber sprechen wollen.
Neben der eingangs erwähnten Neugier gibt es noch ein paar weitere „Eigenarten“, die dem westlichen Beobachter im Verlauf eines Gespräches auffallen. Dazu gehört im Besonderen die bisweilen überrumpelnde Offenheit. Das kann im Positiven aber auch im Negativen vorkommen. Man bekommt Sätze an den Kopf geknallt, die man in Deutschland selbst guten Freunden nie sagen würde, wie zum Beispiel: „Sie sind ja dick. Ich dachte, in Deutschland sind alle schlank. Aber Sie sind richtig fett“, oder: „Sie lernen schon seit zwei Jahren Französisch und sind immer noch so schlecht?“. Diese — im Deutschen geradezu beleidigenden — Aussagen sind gar nicht böse gemeint. Fettsein ist kein Makel, eher im Gegenteil, und die Frage nach der quasi Dummheit rhetorisch. Es sind wertfreie Feststellungen, keine Kritik oder gar Beleidigungen. Häufig steckt hinter solchen Fragen nichts weiter als Unverständnis. Man möchte die Dinge erläutert bekommen, die man sich nicht erklären kann.
Ganz im Gegensatz dazu steht das „Ausweichen“ in dem Fall, wenn man etwas vom anderen möchte. Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, mit einer Bitte einfach so ins Haus zu fallen. Man startet eine Konversation, fragt nach dem Befinden der Familie, plaudert über das Wetter und kommt dann irgendwann zu dem Punkt, weswegen man die Konversation anfangs startete und lässt seine Bitte so unauffällig wie möglich fallen. Bei uns würde ein solches Verhalten als „um den heißen Brei reden“ bezeichnet werden, in Marokko ist es ein Muss, welches im Falle der wirklichen Not und Dringlichkeit natürlich aufgehoben wird.
Ein weiteres, für den europäischen Beobachter verblüffendes Merkmal marokkanischer Konversation ist der Umgang mit der Wahrheit. Oft wird man im Verlauf eines Gespräches feststellen, dass das Erzählte äußerst unglaubwürdig klingt oder dass man ein und dieselbe Geschichte nun schon vom zehnten Gesprächspartner als selbst Erlebtes erzählt bekommt. Nicht alles, was uns als Lüge erscheint, muss aber auch wirklich als solche gesehen werden. Lüge ist ein hartes Wort und berücksichtigt nicht den Kontext, in dem sie ausgesprochen wurde. Das Wort „Beschönigung“ kommt der Tatsache da schon näher. Der Grund dieser Beschönigung ist die Angst, das Gesicht zu verlieren. Ein Gesichtsverlust ist sehr schlimm, Ehre noch immer ein Begriff, der in Marokko, wie in vielen anderen Ländern, sehr hoch gehalten wird. Hinzu kommt, dass man Tatsachen gerne mit Geschichten ausschmückt, die charakteristisch für eine Situation sein sollen oder ein Wunschdenken ausdrücken. Ein typisches Beispiel dafür ist die Geschichte, dass eigentlich jeder Marokkaner, mit dem man spricht, Freunde in Deutschland hat, die er demnächst einmal besuchen geht. Das kann natürlich stimmen. Aber da wird plötzlich ein Mensch, mit dem er vor drei Wochen einen Tee getrunken hat, zum besten Freund, und das „demnächst“ bedeutet in diesem Zusammenhang: „vielleicht irgendwann einmal, wenn ich je das Geld zusammenkriegen kann“. Die wenigsten Marokkaner werden je dazu in der Lage sein, das Geld für eine Reise nach Europa zusammenkratzen zu können. Das zugeben zu müssen, wäre aber dem Fremden gegenüber, der offensichtlich dieses Geld besitzt, ein Ehrverlust. Ein anderes häufig auftretendes Beispiel für solche Unwahrheiten ist ein berühmter Mensch in der Bekanntschaft. „Kennst Du etwa nicht xy? Der ist doch einer der bekanntesten... !“. So etwas kommt nicht nur im privaten Gespräch vor, sondern auch in wissenschaftlichen Abhandlungen. Irgendein Gelehrter xy wird dann zur Koryphäe erklärt, nicht weil er es ist, sondern nur, weil er sinnbildlich als Vertreter einer Meinung steht. Häufig werden zu diesem Zwecke sogar fiktive Personen zu Berühmtheiten erklärt. Kommt man im Verlauf eines Gespräches einer derartigen „Lüge“ auf die Spur, so ist das keine böse Absicht oder Lust an der Unwahrheit, es ist lediglich eine etwas andere Art, die Wahrheit zu sehen und sollte auch als solche betrachtet werden. Dennoch: Nicht alles ist unwahr, was unwahrscheinlich klingt.
Einen letzten Punkt möchte ich an dieser Stelle anbringen: Den Hang zur Emotionalität und zur Übertreibung. Häufig werden Erzählungen mit ausdrucksvollen Gesten, Mimiken und heftigen Gefühlsbeschreibungen geschmückt. Araber im allgemeinen lieben diese Theatralik, das gilt vor allem für die Beschreibung von Gefühlen. Nüchternheit passt allenfalls in die Fernsehnachrichten (wobei es bei schlimmen Nachrichten auch schon einmal vorkommen kann, dass die Sprecher beim Verlesen der Katastrophe anfangen zu weinen!), alles was darüber hinaus geht gehört in das alltägliche (sehr gefühlsstarke) Leben.
Wie schon erwähnt: Zu Gesprächen kann es überall kommen. In Bussen, beim Spazierengehen, im Café oder beim Einkaufen. Man bekommt relativ schnell ein Gespür dafür, wer wirklich an einem Gespräch interessiert ist, und wer nur auf Profit aus ist. Dennoch wird man immer wieder negative Erfahrungen machen. Das ist meines Erachtens aber nicht weiter schlimm, denn durch Erfahrungen wird man ja bekanntlich klug. Und wenn sich aus einem solchem Gespräch eine Einladung oder ein näherer Kontakt entwickelt — umso schöner.